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Robert Musil
der mann ohne eigenschaften
Erster Teil
Eine Art Einleitung

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Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht

ber dem At­lan­tik befand sich ein ba­ro­me­t­risches Mini­mum; es wan­derte ost­wärts, einem über Ruß­land la­gern­den Maxi­mum zu, und ver­riet noch nicht die Nei­gung, diesem nörd­lich aus­zu­wei­chen. Die Iso­thermen und Iso­theren taten ihre Schul­dig­keit. Die Luft­tem­p­era­tur stand in einem ord­nungs­ge­mäßen Ver­hält­nis zur mitt­le­ren Jah­res­tem­pe­ra­tur, zur Tem­pe­ra­tur des kälte­sten wie des wärm­sten Monats und zur ape­ri­o­dischen mo­nat­lichen Tem­pe­ra­tur­schwan­kung. Der Auf- und Un­ter­gang der Sonne, des Mondes, der Licht­wechsel des Mondes, der Venus, des Sa­turn­ringes und viele an­de­re be­deut­same Er­schei­nungen ent­sprachen ihrer Vor­aus­sage in den as­t­ro­no­mischen Jahr­büchern. Der Was­ser­dampf in der Luft hatte seine höchste Spann­kraft, und die Feuch­tig­keit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tat­säch­liche recht gut be­zeich­net, wenn es auch et­was alt­mo­disch ist Es war ein schö­ner Au­gust­tag des Jahres 1913.

Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seich­tig­keit heller Plätze. Fuß­gän­ger­dun­kel­heit bil­dete wol­kige Schnüre. Wo kräf­tigere Striche der Ge­schwin­dig­keit quer durch ihre lockere Eile fuhren, ver­dickten sie sich, rie­selten nach­her rascher und hatten nach we­nigen Schwin­gungen wieder ihren gleich­mäßigen Puls. Plün­derte Töne waren zu einem drah­tigen Ge­räusch in­ein­ander ver­wunden, aus dem ein­zelne Spit­zen vor­stan­den, längs des­sen schnei­dige Kanten lie­fen und sich wie­der ein­eb­neten, von dem klare Töne ab­split­terten und ver­flo­gen. An diesem Ge­räusch, ohne daß sich seine Be­son­der­heit be­schrei­ben ließe, würde ein Mensch nach jah­re­langer Ab­we­sen­heit mit ge­schlos­senen Au­gen er­kannt haben, daß er sich in der Reichs­haupt- und Re­si­denz­stadt Wien be­fin­de. Städte las­sen sich an ihrem Gang er­ken­nen wie Menschen Die Au­gen öff­nend, würde er das gleiche an der Art be­mer­ken, wie die Be­we­gung in den Straßen schwingt, bei wei­tem früher als er es durch ir­gend­eine be­zeich­nende Ein­zel­heit her­aus­fände. Und wenn er sich, das zu kön­nen, nur ein­bilden sollte, schadet es auch nichts. Die über­schät­zung der Frage, wo man sich be­finde, stammt aus der Hor­den­zeit, wo man sich die Fut­ter­plätze merken mußte. Es wäre wich­tig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz un­genau damit be­gnügt, sie sei rot, und nie da­nach fragt, wel­ches be­son­dere Rot sie habe, ob­gleich sich das durch die Wel­len­länge auf Mi­k­ro­mil­li­me­ter genau aus­drücken ließe; wo­gegen man bei et­was so viel Ver­wi­ckel­terem, wie es eine Stadt ist. in der man sich auf­hält, immer durch­aus genau wissen möchte, wel­che be­sondere Stadt das sei. Es lenkt von Wich­tigerem ab.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1930–43.